Zur Beerdigung, 1. Dezember 2011 - Dank an Eva Menasse für den Text
Georg Kreisler, 1922 – 2011
Georg Kreisler war ein Genie. Dieser Begriff, ich gebe es zu, ist in Verruf geraten, ist fast unbrauchbar geworden in einer Welt, in der das Sampling, das Regietheater und die Piratenpartei den Ton angeben. Außerdem sagen die Jüngeren nicht gern über die Alten, dass sie Genies sind oder waren, denn dann hätten die Jungen ja nichts mehr zu wollen.
Dennoch: Georg Kreisler war ein Genie, ein literarisch-musikalisches Genie, das es so nie wieder geben wird.
Das ist leicht zu begründen: Ich wette, dass es keinem Sänger und Pianisten gelingen wird, sich an ein Klavier zu setzen, und ein Stück von Georg Kreisler zu singen. Es ist fast unmöglich, handwerklich so schwierige und disparate Stücke wie etwa den „Opernboogie“ oder den „Musikkritiker“ selbst zu spielen und dazu zu singen. Was heißt zu singen: Mit Leichtigkeit und knisterndem Witz zu singen, und dabei noch zu variieren und auf sein Publikum direkt zu reagieren. Und selbst wenn sich irgendwo einer fände, der das könnte, wäre er nur ein reproduzierender Künstler. Denn diese unheimlichen, unnachahmlichen Stücke in die Welt gesetzt hat er, der große Georg Kreisler.
Georg Kreisler war der Meister einer Klasse, die er selbst erfunden hat und in der er ganz alleine saß. Dieses Alleinesitzen hat er, glaube ich, genauso gehasst wie gebraucht. Es hat ihn angestachelt. Es war seine Daseinsform, die Bedingung seiner künstlerischen Empfindlichkeit. Wo ihm Gott behüte Zuspruch drohte, gar Erfolg, schlug er sofort einen anderen Weg ein. Alles, was er tat, war Totalopposition mit den Mitteln der Kunst, es war gereimter, gesungener Widerstand.
Deshalb wurde er so schlecht verstanden. Deshalb wurden seine Werke immer erst mit einer Verspätung von Jahrzehnten bekannt und beliebt. Ich weiß nicht, ob es viele Künstler gibt, denen es nicht nur ein-, zweimal, sondern regelmäßig, immer wieder gelungen ist, verboten zu werden, Rundfunkstationen und Theaterintendanzen in helle Aufregung zu versetzen, Würdenträger mit Liedern und Theaterstücken bis aufs Blut zu reizen. Georg Kreisler war ein solcher Künstler. Die Ablehnung und das Unverständnis hat er durchaus als Kompliment genommen.
Was Georg Kreisler machte, war kein Kabarett, es waren schon gar nicht Chansons, und es war so viel mehr als Lyrik und Literatur. Es gibt keinen Begriff dafür, außer vielleicht den Titel einer seiner Schallplatten: Kreisleriana.
Er konnte mit Melodien und Musikstilen machen, was er wollte. Mit den Worten sowieso. Sie standen ihm biegsam und demütig zur Verfügung wie dem Wettermacher die Elemente. Er beherrschte alle Versmaße und die aberwitzigsten Methoden, zu reimen. Seine Lieder sind immer mehrdimensional; er paarte in der Sprache wie in der Musik gern die Gegensätze; er konnte grotesk kalauern und blödeln und dabei tieftraurig sein, er konnte scharf kritisieren und war dabei immer gewitzt. Er stellte schmelzende Klänge zu ätzenden Sätzen und umgekehrt, er ließ Klavierläufe verrückt spielen, während er mit harmloser Stimme hinterfotzige Geschichten zum Besten gab.
Aber eigentlich braucht man einem Meister der Worte keine anderen Worte anheften wie Auszeichnungen oder Orden – von denen er übrigens im Leben skandalös wenige bekommen hat. Wir sind heute schließlich nicht hier, um uns von Georg Kreislers Werk zu verabschieden. Denn dieses Werk bleibt uns, er hat es uns geschenkt und hinterlassen, in seiner ganzen Brillanz und Größe. Gestört, wie unsere Welt in diesen Dingen ist, werden wahrscheinlich gerade jetzt wieder ein paar mehr CDs und Bücher verkauft werden, denn wenn einer stirbt, wird er gleich tagesaktuell. Aber tröstlich ist es doch, dass wir alle nach Hause gehen können und Kreisler hören und lesen; ich habe das getan, seit mich am Mittwoch vor einer Woche die Nachricht erreichte.
Jetzt sind wir hier, um uns vom Menschen Georg Kreisler zu verabschieden. Er und ich, wir haben uns kaum gekannt, aber dieses kleine „kaum“ war voller Herzlichkeit. Dass er kein „einfacher Mensch“ war, gehört ja inzwischen zum Allgemeinwissen über ihn. Aber abgesehen davon, dass wohl niemand von sich selbst gern sagen würde, er sei ein „einfacher Mensch“, hatte Georg Kreisler ausreichend Gründe, um zwei bis drei nicht-einfache Menschen zu sein.
Als im März 1938 in Wien der Nazi-Terror losbrach, war er ein Jugendlicher, noch keine sechzehn Jahre alt, kein Kind mehr, aber auch kein Erwachsener. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, dass solche Demütigungen bei Jugendlichen tiefere Spuren hinterlassen als in allen anderen Lebensphasen. Unter den Vertriebenen, die in den mittleren Zwanziger Jahren geboren worden sind, kam der Kreislersche Typus nämlich öfter vor, jener Typus, den man später gewagt hat, „nicht einfach“ zu nennen, oder gar „verbittert und unversöhnlich“.
Ihm eignete eine fast gesundheitsschädigende politische Wachheit, gepaart mit grellem Mißtrauen und dem vitalen Instinkt, lieber einmal aus den falschen Gründen loszuschlagen als zu spät. Es wurden widerborstige Menschen daraus, die mit allen Mitteln zu verhindern wussten, dass jemand einen Blick auf ihre Verletzungen erhascht. Gleichzeitig waren sie mit sich selbst am unzufriedensten, konnten sich nicht verzeihen und wussten dabei nicht einmal, was. Georg Kreisler schrieb einmal: „Nur die Unzufriedenheit macht mich glücklich“.
Da das „offizielle Österreich“ nach dem Krieg nichts das Mindeste getan hat, um auf die vertriebenen Mitbürger zuzugehen, geschweige denn, sie zurückzuholen, weil es nämlich damit beschäftigt war, die eigene Rolle als „erstes Opfer Hitlers“ gewohnt perfekt zu inszenieren, musste Georg Kreisler, mussten alle jene, die das Gleiche erlebt hatten wie er, sich bestätigt fühlen.
Dass sie nämlich so waren, die selbsternannten „echten Österreicher“: Wenn es etwas zu holen gab, waren sie die wildesten und phantasievollsten Arisierer, sobald die Treibjagd aber abgeblasen war, stellten sie schluchzend die eigenen Wunden aus. Für österreichische Juden gab es daher nach 1945 nur zwei mögliche psychische Zustände: Amnesie bis zur Selbstverleugnung oder eben die wütende, fassungslose Bitterkeit.
Georg Kreisler gehörte, wie viele seiner Generation, zur zweiten Kategorie. Anders als andere, die grimmig zu Hause saßen, hatte er die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Dass es jetzt in manchen Nachrufen hieß, er habe zu Wien „Hassliebe“ empfunden, er habe ein schwieriges Verhältnis zu seinem Heimatland gehabt, ist eine dreiste Verkehrung der Tatsachen.
Georg Kreisler gab doch nur die Antwort auf die Nazis und die unmittelbare Nachkriegszeit, als man, wie mein Onkel, ein Alters- und Schicksalsgenosse Georg Kreislers, immer sagte, in ganz Österreich plötzlich keinen einzigen Nazi mehr finden konnte, nicht einmal mit der Lupe.
Mit seiner immensen Begabung machte Georg Kreisler etwas daraus. Er machte diese Erfahrungen nicht zum Zentrum, aber zum Treibstoff seiner Kunst. Auf einzigartige Weise verband er Charme und Witz mit seiner intimen Kenntnis menschlicher Bösartigkeit. Sofort schlugen ihm – und da war er immer noch jung – aufs Neue Ablehnung und Empörung entgegen. Das hat den Künstler, wie gesagt, gewiß befördert, den Menschen aber umso tiefer verletzt. Und so sind seelische Versehrtheiten entstanden, die gewiss nicht nur seine Beziehung zu Österreich, sondern auch sein Grundverhältnis zu anderen Menschen, bis hin zu seinen Kindern, schwierig gemacht haben.
Gegen eine große Wahrscheinlichkeit hat er aber doch sein eigenes Stück vom Glück gefunden: Seine Frau Barbara war Georg Kreislers Lebensmensch. 35 Jahre lang waren die beiden Tag und Nacht unzertrennlich. Es mag ja einigen nicht gepasst haben, dass er nur noch mit ihr aufgetreten ist, dass er sie seine Lieder singen und seine Texte rezitieren ließ. Die Fans wünschten sich Kreisler pur, nichts anderes, aber sie haben dabei nicht darüber nachgedacht, wieviel Kreisler sie ohne Barbara überhaupt noch bekommen hätten. Unser aller Mitgefühl gilt heute Barbara Kreisler, der gerade erst langsam bewusst wird, dass diese Symbiose aus Arbeit, Leben und Liebe nun zu Ende ist.
Der Tod von Georg Kreisler markiert auch das endgültige Verschwinden einer besonderen Generation. Es ist die letzte Generation österreichischer Juden, die ihren eigenen Erinnerungen trauen konnte. In ihrer Kindheit waren sie eine vollkommen integrierte, eine säkular aufgewachsene Generation, die vor allem durch die Nazis zu Juden gemacht wurde. Das Wort Jude ist letztlich beliebig; sie haben die schockierende und unvergessliche Erfahrung gemacht, im Zufallsverfahren zu Parias zu werden. Ihre Eltern dagegen waren noch Untertanen des Kaisers Franz Joseph, k.u.k.-Bürger durch und durch; das bedenkend erkennt man, welch scharfe Splitter diese Generation in sich getragen haben muss. Mit ihnen geht auch eine bestimmte Sprachfärbung unter, das, was vielleicht das echte jüdische Wienerisch war. Wenn Georg Kreisler seine „Nichtarischen Arien“ singt, dann höre ich sie noch einmal, die Stimmen aus meiner Kindheit. Wahrscheinlich ist das, neben seiner inhärenten Widerborstigkeit, der Grund, warum mir Georg Kreisler, den ich so spät und nur kurz kennengelernt habe, sofort vertraut war, ganz abseits aller Bewunderung für seine Kunst. Und warum ich jetzt so traurig bin.
Seit einiger Zeit treibt mich die Frage um, wie sehr das Beste und das Schlechteste, das mir zu Österreich einfällt, vielleicht doch zusammengehören wie Geschwister. Wie sehr die eingewurzelte österreichische Gemeinheit, das Talent zu Hinterfotzigkeit und ziselierter Intrige gleichzeitig die Bedingung sind für die hohe, die schneidende Qualität einiger weniger Ausnahmekünstler wie Georg Kreisler. Wo es von Geburt an so sehr auf die Zwischen- und Untertöne ankommt, hat sich offenbar bei einigen ein besonderes Talent herausgebildet, ein ganzer hochempfindlicher, überreicher Sprachapparat. Zugespitzt gefragt: Wäre das, was Georg Kreisler war, überhaupt möglich gewesen mit einer Herkunft aus Hintertupfing oder Bielefeld? Müssen wir dem klebrig-charmanten Wiener Sumpf am Ende noch dankbar sein, weil wir in ihm so gut schwimmen, spucken und Wasser treten gelernt haben?
Lieber, sehr verehrter Georg Kreisler, wie gerne hätte ich Sie das noch gefragt.
Eva Menasse, 1. Dezember 2011